Am 27.April 2017 organisierte die Zugvögel-Regionalgruppe Münster in der Stadtbibliothek einen Vortrag von Fabian Georgi zum Thema „Was wäre, wenn es keine Grenzen gäbe?“. Im Vorfeld machten wir Zugvögel eine Straßenaktion, bei der wir versuchten mit Passant*innen ins Gespräch zu kommen und auf den Vortrag aufmerksam zu machen. Mit einem Absperrband wurde der Zugang zur Julius-Voos-Gasse abgesperrt, um eine sichtbare Grenze im Raum zu bilden und gleichzeitig auf Plakaten provozierend zu fragen „Brauchen wir Grenzen?“. Doch davon ließen sich nicht allzu viele eilige Passanten beirren und wollten schnell durch.  Einige spannende Gespräche kamen dabei dennoch zustande, mit oft sehr unterschiedlichen Meinungen, wie: „Ohne Grenzen wäre die Welt eine Bessere, aber das wird nicht kommen. Die Grenzen sind in den Köpfen.“ oder „Das war so, das ist so und das bleibt auch so.“

Der Vortrag von Fabian Georgi beleuchtete das Thema aus einer eher wissenschaftlichen Perspektive, indem er zunächst aufzeigte, warum man gegen Grenzen sein sollte, dann, warum die Abschaffung derer derart unrealistisch erscheint und schließlich, was sich mit offenen Grenzen verändern würde.

Zunächst betonte Fabian Georgi, dass der Ausdruck „NoBorders“ nicht einfach als inhaltsleere Provokation von vielen Gruppierungen genutzt werden sollte. Oft arten Diskussionen in der Öffentlichkeit zu einer sehr sentimentalen bzw. emotionalen Auseinandersetzung aus, da diese Forderung als sehr utopisch erscheint. Warum dies so ist, welche politischen Dimensionen Grenzen haben und was passieren muss, damit diese Utopie Wirklichkeit wird, dafür wurden einige Denkanstöße gegeben.

 

Warum sollte man gegen Grenzen sein?

Zunächst zeigte Fabian Georgi am Beispiel der immanenten Kritik auf, warum Grenzen in sich widersprüchlich sind: Die Normen, die unserer Gesellschaft immanent sind, wie Menschenrechte oder demokratische Ideale sind ein enormer Widerspruch zu dem, was an den Grenzen passiert. Die Kritik an den Grenzen ist also schon unserer Gesellschaft immanent, diese Zustände dürfte es eigentlich gar nicht geben.
So werden an Grenzen immer Menschen in Kategorien einsortiert und unterschiedlich behandelt: Indem man Schutz für Geflüchtete einfordert, werden Nicht-Geflüchtete ausgeschlossen.

Souveräne Nationalstaaten dürfen explizit ihre Grenzen kontrollieren und kein Nationalstaat funktioniert ohne eine permanente Ausgrenzung anderer.

Dabei bekommt Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besondere Bedeutung zu: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Demnach dürfte es Privilegien und auch zufällige Privilegien, wie es die Zugehörigkeit zu einer Nationalität ist, nicht geben. Hierbei ist die Staatsbürgerschaft vergleichbar mit einem Adelsprivileg: Früher war man war zufällig in die Adelsgesellschaft hineingeboren, ohne dieses Privileg rechtfertigen zu müssen. Diese willkürliche Hierarchisierung spiegelt sich auch in postkolonialen Strukturen wieder: Auf der einen Seite steht der globale Norden, auf der anderen der globale Süden.

 

Warum erscheint die Abschaffung von Grenzen derart unrealistisch?

Grenzen sind eng damit verbunden, wie sich Europa materiell reproduziert und manifestiert. Indem der Kapitalismus nur mit Grenzen funktionsfähig ist, zieht sich diese Struktur durch die gesamte Gesellschaft.

Dabei zeigt Fabian Georgi drei Strukturwidersprüche auf:

Die „kreative Zerstörung“ des Kapitalismus, der Kapitalismus findet nach Schumpeter immer wieder neue Wege auszubeuten und zu dominieren, widerspricht der Eigenschaft des Menschen, sich dies nicht gefallen zu lassen. Mit dem Kapitalismus ist ein Wachstumszwang verbunden, der Strukturen schafft, die Flucht und Vertreibung verursachen. Dabei ist die häufigste Fluchtursache Bürgerkrieg, dem jedoch oftmals als Kriegsursache der Kapitalismus zugrunde liegt. Mehr Wachstum schafft demnach nicht zwangsläufig mehr Wohlstand.

Zweitens bedeutet die Mobilität von Menschen im Kapitalismus auch eine Mobilität von Arbeitskräften: Der Kapitalismus ist auf mobile Arbeitskräfte angewiesen. Hier stellt sich die Frage, warum wir dann überhaupt Grenzen benötigen, wenn diese Mobilität doch so fundamental ist? Hierdurch wird deutlich, dass Grenzen nicht ausschließlich auf den Kapitalismus zurückzuführen sind.  Hinzu kommen rassistische Strukturen, die nicht immer nur ökonomisch-rationale Funktion haben, sondern oft auch eine psychologische Perspektive, indem der jeweils „andere“ abgewertet wird.
Wäre der nationale Wohlfahrtsstaat offen, wäre er letztlich zu teuer und könnte den nationalen Kapitalismus in eine Krise führen. Paradoxerweise hat die Bundesrepublik Deutschland einen Haushaltsüberschuss, obwohl die Zahl der Geflüchteten, die in Deutschland aufgenommen werden, erheblich gestiegen ist. Industriestaaten könnten demnach also durchaus mehr Menschen aufnehmen, jedoch käme es durch den Kapitalismus immanent zu mehr Ausgrenzung, da Druck, Angst und die Konkurrenz um öffentliche Güter steigen. Hier tritt so etwas wie der dritte Strukturwiderspruch zu Tage: Nach Ullrich Brandt beruht die imperiale Lebensweise, also die Art, wie wir Ressourcen im Globalen Norden verbrauchen, auf unserem globalen, grenzenlosen Zugriff auf Arbeitskräfte, Natur und Ausgrenzung. Ohne Grenzen wäre das Ignorieren der „schlechteren“ Lebensart nicht mehr möglich.

 

Was würde sich verändern? Was wäre, wenn die Grenzen offen wären?

Zunächst würde sich das Kräfteverhältnis in den Herkunftsländern gegenüber der eigenen Regierung, Unternehmen und Staaten des Globalen Nordens verschieben. Dann würden Regierungen vielleicht wirklich effektiv Fluchtursachen bekämpfen. Nach dem Exit-Escape-Weg Prinzip („Hier ändert sich etwas oder ich gehe weg“) wird so Druck auf die einzelnen Regierungen ausgeübt. Betrachtet man dabei z.B. die DDR seit dem Mauerbau, so wird deutlich, dass hier durch den Mauerbau, der den Menschen das Recht zu gehen, ihre Exit-Escape-Strategie, nahm, die Regierung aktiv versuchte, den Verhandlungsspielraum für Menschen aus ihrem eigenen Land zu beschränken und so versuchte, sich an die schwindende Macht zu klammern.
Des Weiteren ist für Menschen im Globalen Süden die Grenzdiskussion in Europa nur mittelbar wichtig. Relevant ist zunächst, wie sie ihr Leben in ihrer Heimat verbessern können, dessen Umstände meist nicht direkt in Verbindung mit den Problemen im globalen Norden gebracht werden. Dies müsste aber unbedingt geschehen, um Sachverhalte wie die imperiale Lebensweise besser zu verstehen und in den Fokus zu rücken. Es geht also nicht immer nur um das Recht zu gehen, sondern auch um das Recht zu bleiben. Das bedeutet auch, ein Recht auf eine freie Entscheidung zu haben.

 

Fabian Georgi hat somit einige Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten in Verbindung mit der ernsthaften Forderung nach „No Borders“ aufgezeigt. Dafür spricht einmal mehr die momentan illegitime Hierarchisierung eines feudalen Systems, das auf Zufälligkeit der Staatsbürgerschaft und Herkunft beruht und demnach nicht rational und moralisch gerechtfertigt werden kann. Hinzu kommt, dass viele der Fluchtursachen durch den globalen Norden verursacht werden und so Menschen im globalen Süden in ihrer Lebensweise blockieren, sodass es auch uns betreffen sollte, was in den betroffenen Ländern passiert. Durch eine Transformation hin zu „No Borders“ gäbe es eine ernsthafte Option weg zu gehen oder nicht und damit eine massive Stärkung zivilgesellschaftlicher Bewegungen in Ländern des Globalen Südens.

Als Gefahren der „No Borders“-Bewegung nennt Georgi das mögliche Zusammenbrechen des Wohlfahrtsstaates, jedenfalls in seiner derzeitigen neoliberalen Form sowie das Erstarken von rassistischen, chauvinistischen und nationalen Gegenbewegungen. Eigentlich geht es bei der ganzen Debatte auch immer um das Recht bzw. um die Möglichkeit, in der Heimat zu bleiben.

 

Ansatzpunkte

 

Wo und wie können und sollen „No Borders“-Gedanken also konkreter werden? Zunächst muss laut Georgi ein deutlich offensiverer Diskurs entwickelt werden, was die Unmenschlichkeit der Grenzregime angeht: es braucht Ideen und eine ethisch-reale, humanistische Perspektive auf die Situation und mehr als defensive Argumente wie „Lasst sie rein, weil sie sind ja auch nützlich für uns“.
Des Weiteren darf die „No Borders“-Bewegung hier nicht Halt machen, sondern muss sich ernsthaft mit systemischen und materiellen Strukturen der Grenzregime auseinandersetzen und diese erforschen, um eine reale Analyse zu erhalten und kein ideel verwässertes Bild.

Es muss die ökologische Frage miteinbezogen werden, d.h. z.B. welche Rolle spielt der Klimawandel, und es muss ebenfalls klar werden: wie sind die Kämpfe, die hier gekämpft werden, mit denen der Leute, die kommen, verbunden? Wo sind gemeinsame Perspektiven und wie können wir diese in den Mittelpunkt rücken?

 

Gedanken der Regionalgruppe

 

Der Vortrag war für uns als Regionalgruppe sehr inspirierend, hat aber auch einige kontroverse Diskussion im Anschluss an den Vortrag im Publikum wie auch bei uns ausgelöst: der Weg hin zu „Offenen Grenzen“ ist auch im Vortrag trotz einiger Ideen und Ansatzpunkte sehr unklar geblieben, die Titelfrage „Was wäre, wenn…“ wurde nicht wirklich beantwortet. Es wurden zwar sehr viele Dilemmata aufgezeigt, aber oft nur im Ansatz aufgelöst. Welche Privilegien müssten wir aufgeben? Wie sähe eine andere, nicht imperiale Lebensweise aus? Wie können wir eine solidarische Gesellschaft erreichen, in der es tiefe soziale Sicherheit gibt, die Leute nicht mehr in ständiger Konkurrenz mit allen anderen stehen und somit weniger anfällig für rassistische und chauvinistische Bewegungen sind? Es braucht unserer Meinung nach also eine sozialistische und ökologische Transformation verbunden mit Entschleunigung und Genügsamkeit und deshalb unbedingt eine Einbeziehung der Postwachstumsdebatte in die „No Border“-Bewegung.
Kontrovers diskutiert wurde auch die Frage, ob der Kapitalismus wirklich immer an allem schuld ist oder ob man es sich damit etwas zu einfach macht, was ist z.B. mit der Religion als Ursache für zahlreiche gewaltvolle Konflikte? Auffällig ist, dass Klasse auch heutzutage oft eine sehr große Rolle spielt, man denke nur an die ungleich besseren Chancen für Akademiker*innenkinder auf gute Bildung. Scheinbar religiöse Konflikte sind auch oftmals mit Ressourcenkonflikten verbunden, für die der Kapitalismus maßgeblich verantwortlich ist. Unserer Meinung nach kann man also sehr wohl davon sprechen, dass der Kapitalismus Kriegsursache Nummer 1 ist!
Nichtsdestotrotz bietet diese Analyse kaum Ansätze für mögliche sehr konkrete Probleme, wie die Frage nach Verwaltung, Steuerpflicht oder Wahlen. Auf Nachfrage ist Herr Georgi hier undeutlich geblieben: auch ohne Grenzen könne man irgendwo zugehörig sein und nur, weil die Grenzen offen sind, ist man nicht die ganze Zeit unterwegs vgl. EU. Wichtig ist immer noch: Heimat bleibt Heimat, es geht immer noch eigentlich um das Recht zu bleiben!
Und noch ein Punkt: warum gibt es die No Border-Bewegung nicht auch verstärkt im Globalen Süden? Handelt es sich um eine Art „Luxusproblem“ und ist möglicherweise gar kein essentielles Bedürfnis bei den Betroffenen? Wie sieht es bei Wissenschaftler*innen im Globalen Süden aus, warum wird hier das Problem nicht aufgegriffen?

Ein letzter Gedanke: selbst wenn die Grenzen offen sind, wer würde denn dann davon profitieren? Die Menschen, die es sich leisten können! Selbst so gibt es also dann keine Gleichberechtigung und auch in einer Welt mit offenen Grenzen handelt es sich so noch um eine mit privilegierender Regulation.